Die Doubletten.

Eine lateinische Geschichte von Teo von Torn.
in: „Montags-Revue aus Böhmen” vom 05.10.1903,
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 05.10.1903,
in: „Leipziger Tageblatt” vom 08.10.1903,
in: „Indiana Tribüne” vom 27.10.1903,
in: „Altonaer Nachrichten/Hamburger neueste Zeitung” vom 01.04.1905


Wie das so ist mit dem lieben Gelde: Manchmal hat man welches und manchmal nicht. Wie's trifft. Abgesehen von den verlorenen Seelen, auf welche die Bibel in dem bekannten Gleichnisse vom Kameel und dem Nadelöhr Bezug nimmt, dreht sich das Schicksal der gesamten Menschheit um dieses „manchmal” und seine Launen. Die unterschiedlichen Schwankungen unseres Wohlbefindens, Glück oder Unglück, des Himmels Segen oder der Hölle Fluch hängen davon ab, ob man Geld hat, wenn man es braucht, oder ob man welches braucht, wenn man es nicht hat. —

Der Porträtmaler Hans Hermann Lorch hatte Pech in dieser Hinsicht. Wenn er Geld besaß — und das kam wirklich manchmal vor, denn er war ein talentvoller Mensch und auch fleißig, wenn es sein mußte — dann brauchte er es so wenig, daß er Mühe hatte, es mit der erforderlichen Beschleunigung auszugeben. Entweder kaufte er für die achtundsechzig Kindlein, welche das von Hans Lorch mitbewohnte Miethshaus bevölkerten, Mundharmonikas und ähnliche nützliche Dinge, oder er erwarb von einem Bäcker dessen ganzen Mundvorrath, um ihn an einer Straßenecke an die zur Arbeit hastenden Proleten zu vertheilen. Ja, es ist sogar schon vorgekommen, daß er in solcher Lage einen Gläubiger bezahlt hat, dem er zufällig begegnete.

Wenn er aber Geld brauchte, dann wollte es die Tücke des Zufalls, daß er keins hatte — und noch nie in seinem Leben hatte er so gründlich keins gehabt wie heute, wo für ihn alles davon abhing, daß er welches hatte.

In dem, ursprünglich wohl für einen Photographen bestimmten Glaskasten, welchen Hans Hermann Lorch sein Atelier nannte, dämmerte ein grauer, regnerischer Nachmittag. So ein melancholischer Nachmittag im Herbst, der an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert — an Preßkohlen und an den fernen Winterüberzieher.

Von den Dachscheiben rieselten unaufhörlich kleine Thränenbächlein, die den verlorenen Sommer beweinten und das Mißgeschick des Aermsten, der vor seiner Staffelei saß und einen Brief auswendig lernte — einen Brief, der an und für sich kaum geeignet war, ein Künstlergemüth sonderlich aufzuwühlen.

„Oberförster von Dellwitz gibt sich die Ehre, Herrn Kunstmaler Hans Hermann Lorch zu der morgen stattfindenden Treibjagd auf Hasen ergebenst einzuladen. U. A. w. g.”

Das hatte nichts Aufregendes — und der Fernstehende wird es nicht begreifen, daß Hans Hermann außer einer jubelnden Zusage dem Boten auch noch seine letzten 35 Pfennige gegeben. Der Fernstehende weiß eben nicht, daß zwischen diesen dürren Zeilen des Herrn Oberförsters von Dellwitz ein braunäugiges Mädchenantlitz lockte und lächelte, ein wunderliebes Koboldgesichtchen, das der Kunstmaler Lorch vor gar nicht langer Zeit auf die Leinwand hatte bannen dürfen und von dem er sich heimlich noch eine verblüffend naturwahre Copie zurückbehalten hatte — in seinem Herzen — —

Der alte Oberförster hielt verdammt wenig von der Kunst und noch weniger von den Künstlern. Wenn er sich trotzdem „die Ehre gab”, so waren da Einflüsse geltend gemacht worden, die einen rettungslos verliebten Menschen sehr wohl veranlassen können, jubelnd zuzusagen, die letzten 35 Pfennige hinzugeben und hinterher auch noch eine erstaunte Gliederpuppe an die Brust zu drücken.

Das war im ersten Glücksrausche gewesen. Allmählich aber machte die Vernunft einige nüchterne Einreden, die leider nicht von der Hand zu weisen waren. Daß Hermann Lorch überhaupt noch keinen Hasen in der Freiheit dressirt gesehen und daß er ein Lancastergewehr von einem Malstock nur in gewissen äußeren Merkmalen zu unterscheiden wußte, das beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Er gehört zu den glücklichen Menschen, die niemals in die Lage kommen können, eine Unkenntniß eingestehen zu müssen. Im Gegentheil — er hatte bei der Ablieferung des Porträts von Fräulein Kitty Dellwitz verschiedentlich auf seine colossale Passion für das alte Weidwerk hingewiesen und durchblicken lassen, daß er bei einiger Disposition immer nur Doubletten schieße, gleichviel ob es sich um Rebhühner oder starke Hirsche handle. Der alte Herr hatte zwar dabei eigenthümlich gelächelt, aber es mußte ihm, wie die Einladung bewies, doch wohl imponirt haben. Wahrscheinlich log er selbst nicht viel schöner!

Das kam jedoch alles nicht in Betracht gegenüber der Hauptfrage: Wie kam man überhaupt nach Nieder-Wustrow? Man mußte einen Wagen nehmen — und ein Wagen kostete Geld. Des weiteren: Da man eine Treibjagd auf Hasen unmöglich in einem Gehrock und auch nicht gut in einem braunen Sammtjackett mitmachen konnte — wo nahm man die erforderliche Equipirung her? Dann die Trinkgelder! Und einen Schießprügel mußte man eigentlich doch auch haben. —

Und das alles in einer Lage, in welcher er nicht einmal ein Streichholz besaß, um seinen Pfeifenstummel mit dem letzten Rest von Krümeltabak in Brand zu setzen. Seine Wirtin hatte ihm heute morgen auf seine Bitte eine Schachtel mit dreieinhalb Schweden hineingereicht, dabei aber bestimmt erklärt, weitere Auslagen nicht mehr machen zu können. Es habe alles ein Ende — auch die Geduld einer Zimmervermietherin und Controlleurswittwe.

Oder sollte sie sich das überlegt haben? —

Hans Hermann Lorch hörte Schritte — gleich darauf ein Klopfen. Er barg den Brief in die Brusttasche seines braunen Sammtjacketts und ging zur Tür. Zunächst öffnete er nicht. Es gibt zudringliche Menschen, die einem mit Rechnungen oder gar Quittungen ins Haus kommen.

„Sind Sie es, Frau Kliemeck?” —

„Nein, ich.”

„Wer?”

„Der Briefträger!”

„Ach so. Na dann nehmen Sie den Postauftrag nur wieder mit, ich bin heute nicht momentan —”

„Darum handelt es sich nicht, Herr Lorch — ich habe einen Werthbrief über tausend Mark!”

Hans Hermann schüttelte verdrießlich den Kopf.

„Wenn Sie sich Witze mit mir erlauben, alter Freund, und noch dazu solche Witze, dann werde ich mich bei der Oberpostdirektion beschweren. Verstehen Sie?”

„Nein, nein, Herr Lorch — es ist schon richtig. Ein Geldbrief mit tausend Mark aus Kassel.”

„Aus Kassel! Allmächtiger Gott! Dann ist die „singende Elfe” verkauft —” hauchte er athemlos in sich hinein. Alsdann ein Laut, der die Mitte hielt zwischen einem Appenzeller Jodler und dem Triumphgeheul eines Irokesen. Gleich darauf aber ein Ruck, mit dem Hans Hermann Lorch sich selbst zurechtstutzte. Fassung! Haltung!

Er öffnete die Thür und empfing die tausend Mark mit einem Gesicht, als wenn er täglich mindestens zweimal dergleichen Belästigungen zu überstehen hätte.

„Ziehen Sie sich 5 Mark ab, lieber Freund — hier.”

„Aber Herr Lorch, das ist doch — —”

„Nun gut, so ziehen Sie 10 Mark ab.”

„Ich bitte Sie, das ist zu viel. Ich kann unmöglich — —”

„Ziehen Sie ab und schlagen Sie sich seitwärts in die Büsche. Ich habe keine Zeit, mich mit solchen Lappereien lange aufzuhalten. Hier sind übrigens noch weitere 20 Mark für die Briefträgersterbekasse. Adieu. Und wenn Sie sonst mal in Verlegenheit sein sollten — ich weiß ja, mit Ihrem Gehalt sind keine großen Sprünge zu machen, zumal wenn man Familie hat. Wenden Sie sich nur vertrauensvoll an mich. Adieu — machen Sie keinen Schmus — grüßen Sie Ihre liebe Frau — und die Kinder — kommen Sie gesund nach Hause — und schreiben Sie auch mal! Und wenn Sie meine liebe Frau Kliemeck unten sehen — sie soll mal raufkommen. Sie soll! Verstehen Sie?”

*           *           *

„Sie haben gebeten, Herr Lorch?”

„Nein, meine werthe Frau Kliemeck, ich habe ersucht. Bitten thu ich immer nur, wenn ich mal vorübergehend kein Geld habe. Was bin ich Ihnen also schuldig?”

„Achtundvierzig Mark und zwanzig Pfennig.”

„Mit den Schweden von heute Morgen?”

„Herr Lorch, ich denke, ich habe stets —”

„Schon gut. Hier sind hundert Mark. machen Sie sich bezahlt, und für den Rest besorgen Sie Streichhölzer!”

„Für — für zweiundfünfzig Mark St — Streichhölzer?!”

„Ganz recht. Ich will nicht wieder in Verlegenheit kommen. Und jetzt entschuldigen Sie mich wohl, meine beste Frau Kliemeck. Ich habe noch einige Besorgungen zu machen. Gehen Sie nicht leichtsinnig um mit dem vielen Mammon, den Sie so auf einen Hieb in die Hand bekommen und vergessen Sie nicht die Streichhölzer!”

Eine Stunde später hatte Hans HermannLorch erstanden: Einen completten Jagdanzug aus Gebirgsloden, einen Drilling, einen Bergstock, zwei Paar langschäftige Stiefel, einen Jagdstuhl, ein Fernrohr, fünfhundert Kugel- und tausend Schrotpatronen.

Eine weitere Stunde später verabschiedete er sich von dem ersten Wildprethändler der Stadt mit einem Händedruck und einem vertraulichen Augenzwinkern:

„Also Sie haben mich vollkommen verstanden?”

„Vollkommen, mein Herr. Ich kenne das Nieder-Wustrower Jagdgebiet sehr genau, ebenso mein junger Mann, der heute Nacht selbst herausfahren und die Sache nach Wunsch arrangiren wird. Das Treiben dürfte wie immer in der Richtung der bunten Buche sich bewegen. Wenn Sie sich morgen nur entsprechend aufstellen wollen —”

„Wird gemacht. Also sechsunddreißig Hasen!”

„Sehr wohl. Dieselben kommen heute Abend frisch geschossen mit der Bahn an. Mein junger Mann nimmt sie in Empfang und fährt dann gleich per Wagen weiter.”

„Und Diskretion!”

„Ehrensache, mein Herr. Wenn ich über jeden Hasen, den die Herren Jäger bei mir — schießen, reden wollte, müßte ich einen Mund wie eine Wassermühle haben.

*           *           *

Das Treiben war im Gange. Hans Hermann Lorch schoß wie ein Wahnsinniger.

Ob sich ein Hase sehen ließ oder nicht — er schoß. Die andern, seine nächsten Nachbarn namentlich konnten theils vor Befremden, theils vor Lachen nicht — er schoß aus allen drei Läufen, daß es nur so donnerte.

Fräulein Kitty von Dellwitz hatte ihm gesagt, daß es sie — Papas wegen — sehr, aber auch sehr freuen würde, wenn er auf der Jagd gut abschnitte. Also schoß er — trotz der heißen Gewehrläufe, an denen er sich die Finger verbrannte, und trotz der unsinnigen Schmerzen in der Schulter.

Aber schließlich hat alles ein Ende — die Geduld einer Zimmervermietherin und Controlleurswittwe ebenso wie eine Treibjagd. Mit gehobenen Empfindungen schritt Hans Hermann Lorch dem Sammelplatz zu, von wo aus zunächst die Strecke besichtigt und dann zum Frühstück gegangen werden sollte.

Oberförster von Dellwitz empfing ihn so aufgekratzt, wie man den bärbeißigen alten Herrn selten gesehen hatte.

„Hallo! Weidmannsheil. Sagen Sie, bester Herr Lorch — was haben Sie für eine wundervolle Knarre! Das ist das großartigste, was ich je erlebt habe! Menschenskind, Sie haben thatsächlich lauter Doubletten geschossen — und auf was für eine Entfernung! Kommen Sie, meine Herren, und überzeugen Sie sich selbst!”

Der Oberförster nahm den etwas Unsicheren unter den Arm und schleifte ihn nach dem Platze, wo die Strecke eben zusammengetragen war —

„Ueberzeugen Sie sich selbst! Die Hasen sind sogar paarweise an den Läufen zusammengebunden — und getroffen hat sie das unfehlbare Rohr unseres Nimrodes auf sieben Meilen Entfernung in Schönholz — wie der Bahnleitungsvermerk an jedem Paare erweist!”

*           *           *

Als Hans Hermann Lorch Fräulein Kitty von Dellwitz fragte, ob man sich besser mit einer Schrot- oder mit einer Kugelpatrone erschieße — er habe von beiden Sorten noch eine ganze Anzahl — da meinte sie erröthend, daß das nicht nöthig sei. Wenn Papa so herzlich gelacht habe wie heute Morgen, dann sei er der zugänglichste Mensch, und dann könne man von ihm Vieles verlangen — alles!

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